[ PORTRÄTS ]

 

Autorin, Dichterin, Übersetzerin // Japan

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Begegnung mit Ryōko Sekiguchi

Im Restaurant frage ich den Sommelier manchmal nach einem „cholerischen“ Wein.

Der Stadtteil Shinjuku in Tokio ist ein Schnittpunkt, ein Drehkreuz. Rund um den größten Bahnhof der Welt leben circa 100 Nationalitäten Seite an Seite, mischen sich. Hier sind die größten, in Japan lebenden ausländischen Gemeinschaften anzutreffen: Koreaner, Philippinen, Japaner, Burmesen... Shinjuku ist aber auch das Geschäftsviertel und das Viertel der Bars und Restaurants. Shinjuku ist ein Bezirk, in dem das Leben, tags und nachts, immer pulsiert. Die junge Ryōko Sekiguchi hat dort nonstop, von ihrer Geburt bis zu ihrem siebenundzwanzigsten Lebensjahr, gelebt. Und dann, eines Tages, hat sie sich in Richtung Paris auf den Weg gemacht. Doch Shinjuku hat sie in ihrem Gepäck mitgenommen.  

 

In Paris lässt sie sich, wie sie glaubt, nur vorübergehend nieder, um an der Sorbonne Kunstgeschichte zu studieren. Es ist das Jahr 1997. Doch das Provisorium hält an. Denn Ryōko Sekiguchi gefällt es in Paris. Sie verlässt die Stadt zwar mehrmals, um eine Doktorarbeit zu schreiben, eine Reise zu unternehmen oder der Einladung zu einer Autorenresidenz zu folgen, doch sie kehrt immer wieder zurück. Denn in Paris schreibt Ryōko Sekiguchi am liebsten, und sie schreibt zwanghaft: Gedichte, Essays, Übersetzungen ...  

 

Sie schreibt auf Französisch oder Japanisch Texte, die unsere Sinne und unsere persönlichen und kollektiven Erinnerungen kartografieren, erforschen, behorchen. Geschmäcker und Gerüche spielen dabei oft die Hauptrolle. Die Texte sind stets schlicht und ausgefeilt. Es wird gegessen und getrunken. Es wird über das, was man isst, was man trinkt, gesprochen. Man versucht zu verstehen, was man isst, was man trinkt. Und warum man so isst und so trinkt. Und was die Zeit damit anstellt, so in ihrem jüngsten Buch 961 heures à Beyrouth, in dem sie ein kulinarisches Porträt der brodelnden libanesischen Hauptstadt zeichnet, in das sich die Schatten der Katastrophe vom August 2020 einschleichen.  

 

Von all dem und vielen anderen Dingen war die Rede in unserem Interview mit ihr. Das Gespräch fand in Paris statt, in einem Café in der Avenue Gambetta im Osten von Paris, in einer Gegend, in der sich viele Bars und Restaurants tummeln und in der sich, wie in Shinjuku, die Ursprünge und Wurzeln vermischen.  

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Sie haben viel und gerne über das Essen geschrieben. Unterscheidet sich Ihr Verhältnis zum Wein von Ihrem Verhältnis zum Essen ?

RYŌKO SEKIGUCHI

Tatsächlich habe ich oft den Eindruck, dass die Welt der festen und der flüssigen Nahrung weit auseinanderklafft. Diejenigen, die über Wein schreiben, schreiben in der Regel nicht über das Kochen und umgekehrt. Ich persönlich erlaube mir zu behaupten, dass ich eine gewisse Fähigkeit besitze, Gerichte zu verstehen und zu analysieren, die verschiedenen Aromen herauszulesen und die Spannungslinien zu erkennen, aber vor einer Flasche Wein fühle ich mich oft wie ein Greenhorn. Ich glaube, dass ich in gewisser Weise versuche, mir die Schönheit des Unbekannten zu bewahren. Es gab eine Zeit, da fuhr ich regelmäßig nach Spanien, ohne zu versuchen, die Sprache zu lernen, einzig, um ein gewisses Gefühl der Fremdheit zu erleben. Mit Wein ist es ähnlich, ich bin keine Weinkennerin und ich genieße diesen Kontrast, diese Verschiebung. 

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Die Weinsprache, die von Kennern verwendet wird, klingt manchmal echt komisch. Wie erleben Sie als Schriftstellerin diese Weinsprache? 

RYŌKO SEKIGUCHI

Die sehr suggestive Terminologie rund um den Wein, ähnlich wie im Parfümsektor, interessiert mich sehr. Diese Terminologie kann zwar verwirrend sein und mitunter elitär anmuten, doch es ist immer interessant, sie zu zergliedern. Es ist aber auch möglich, sich dieser Sprache zu entziehen, sich von ihr zu befreien, denn wir werden in unserer Erziehung nicht dazu ermuntert, unsere Empfindungen in Worte zu fassen, was das Feld der Möglichkeiten öffnet. Es gibt Tausende von Möglichkeiten, einen Wein, ein Getränk oder ein Gericht zu beschreiben. Wenn ich an einem Workshop mit Kindern teilnehme, bereite ich immer ein Spiel vor: Ich lasse sie kleine Happen probieren und bitte sie, über ihr Geschmackserlebnis zu sprechen. Das ist wirklich erstaunlich. Die Kinder erzählen mir von einem „neonfarbenen“ Geschmack oder einem „traurigen“ Geschmack oder einem Geschmack, der „schnell rennt“. Und ich weiß genau, was sie mir sagen wollen. Im Restaurant kommt es vor, dass ich den Sommelier nach einem „cholerischen“ Wein oder einem Wein, der „sympathisch wird, wenn man ihn kennenlernt“, frage!

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Kindern sage ich oft, dass sie ein Tagebuch der Gerüche führen sollen.

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Sie schreiben viel über die Erinnerung. Sind der Geruchs- und der Geschmackssinn mit der Erinnerung verknüpft?  

RYŌKO SEKIGUCHI

Sicher ist, dass sie uns mit einer Geschichte verbinden. Häufig sage ich den Kindern, dass sie ein Tagebuch über die Gerüche führen sollen, die sie wahrgenommen haben, egal, ob sie angenehm oder unangenehm sind. Ich sage ihnen, dass es ihnen dabei hilft, sich an den Eindruck, die Wirkung zu erinnern, die der Geruch bei ihnen ausgelöst hat. Nicht nur riechen, sondern auch schmecken bedeutet, mit der Realität der Dinge in Kontakt zu treten, das Lebendige zu begreifen und sich seiner eigenen Existenz bewusst zu werden. Die Sprache hilft bei all dem, wobei sich die Frage stellt, welche Sprache man verwendet. Denn die Kulturen und mit ihnen die Sprachen unterhalten unterschiedliche Beziehungen zu Empfindungen. Ich nehme das Beispiel des Französischen und des Japanischen, zwei Sprachen, die ich gut kenne. In Frankreich war man lange Zeit der Meinung, dass das Wortfeld von Sake eher schwach ausgeprägt ist. Das liegt aber daran, dass man sich in der japanischen Sprache mehr für die Empfindungen interessiert, die der Sake hervorruft, als für seine Eigenschaften! Die japanische Literatur liefert dafür den eindeutigen Beweis!

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Welchen Platz nimmt Wein in Ihrer Erinnerung ein? 

RYŌKO SEKIGUCHI

Vor zehn Jahren hatte ich das Glück, mehrere Monate in der Villa Medici in Rom im Rahmen einer langfristigen Autorenresidenz zu leben. Am zweiten Tag war ich noch dabei, die Stadt zu erkunden, doch auf Empfehlung eines Freundes ging ich in ein etwas abseits gelegenes Restaurant, das später mein Stammlokal werden sollte. Der Wirt war ein ehemaliger Sommelier. Er war es auch, der mich zum ersten Mal einen Orange Wine probieren ließ. Dieses Zusammentreffen von ersten Malen, von einer Stadt, einem Ort, einem bis dahin unbekannten Geschmack, hat sich mir fest eingeprägt. Italien hat mich auch in Bezug auf Wein befreit, lockerer gemacht. Ich habe mich dort freier als in Frankreich gefühlt, um neue Aromen und Geschmacksrichtungen auszuprobieren und zu entdecken. Im Grunde genommen habe ich Italienisch und „Wein“ gleichzeitig gelernt! 

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Eine in Rom gekaufte Flasche ist noch kostbarer, wenn man sie in Paris mit Freunden trinkt.

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Wie muss ich mir Ihren Weinkeller vorstellen? 

RYŌKO SEKIGUCHI

Ich trinke nie allein. Für mich ist Wein vor allem ein Synonym für Gemeinschaft und Austausch. Daher ist mein Keller in erster Linie für Flaschen bestimmt, die ich mit Freunden öffnen werde. Wenn ich nicht mehr da bin, möchte ich, dass sie in den Weinkeller hinuntersteigen und die Flaschen öffnen, die dort noch stehen, und dabei an mich denken, dass sie sozusagen die Erinnerungen weiterspinnen, die wir gemeinsam haben. Ich habe vor allem Lagerweine, aber auch kleinere Jahrgänge, die ich kaufe, weil ich Angst habe, dass sie bald nicht mehr erhältlich sind. Jedes Jahr bittet das Château Chasse-Spleen im Médoc einen Autor, mit einem Satz den neuen Jahrgang zu beschreiben: Vor fünf Jahren war ich an der Reihe. Seitdem erhalte ich jedes Jahr eine Kiste mit zwölf Flaschen. Für mich ist das wie eine Weihe und diese Flaschen zählen zu den kleinen Schätzen in meinem Weinkeller! 

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Ist die Verkostung auch eine Erinnerung? 

RYŌKO SEKIGUCHI

Natürlich verblasst die Flüssigkeit mit der Verkostung. Aber es entsteht eine neue Erinnerung, die zur vorherigen hinzukommt. Eine in Rom gekaufte Flasche wird noch wertvoller, wenn sie in Paris mit Freunden verkostet wird. Die Erinnerungen an Städte und Gesichter kommen hinzu. Jahre später erinnert man sich daran, einen Wein verkostet zu haben, und es gibt Zeugen für diesen Moment. In Japan haben wir ein ausgeprägtes Bewusstsein für das Vergängliche, für die Flüchtigkeit der Dinge. Darum empfinden wir meiner Meinung nach den Wechsel der Jahreszeiten, die Zerbrechlichkeit von Augenblicken und das Kostbare, das der Feier dieser Augenblicke innewohnt, umso stärker. Im Mai letzten Jahres habe ich meine Familie besucht. Es blühten gerade die Schwertlilien. Ich aß in einem Restaurant zu Abend und ein Blatt war auf den Teller gelegt worden, um die Vergänglichkeit zu symbolisieren. Ich denke, es ist schön und richtig, jedem Moment, jeder Begegnung, jeder Flasche Bedeutung beizumessen. Und dann jede Erinnerung daran zu bewahren. Weil sonst unsere Leben zu zerbrechlich sein würden.

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